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Frankfurter Rundschau“, 22.5.24, Interview mit Filmemacher Martin Keßler zu seinem Film „Reise in den Herbst – alles wie gehabt oder Zeitwende?“. Am 22.5.24 im Berger Kino, Frankfurt a. M.

Der Frankfurter Regisseur Martin Keßler über seinen politischen Film „Reise in den Herbst“, den er an diesem Mittwoch noch einmal im Berger Kino zeigt.

Die EU-Wahl naht, ihr wird richtungweisende Bedeutung beigemessen, gerade was das Abschneiden extrem rechter Parteien wie der AfD betrifft. Damit hat sich der Frankfurter Filmemacher intensiv beschäftigt. An diesem Mittwoch zeigt er seinen Film „Reise in den Herbst“ noch einmal im besetzten Berger Kino.

Herr Keßler, Ihr Film bereist das Deutschland des Jahres 2017 – warum zeigen Sie ihn jetzt wieder, sieben Jahre später?

Ich glaube, dass er wie eine Art Folie wirkt, auf der man aktuelle Entwicklungen klarer einordnen kann – zum Beispiel, was das Erstarken des Rechtspopulismus angeht, in Deutschland mit der AfD, aber auch in Europa. Die Krise der Altparteien, die sogenannte Repräsentanzlücke, all das hat sich ja seither noch verschärft. Insofern ist es interessant, sich das noch mal anzuschauen.

Sie zeigen den Film im derzeit besetzten Berger Kino. Ein Beitrag zur Unterstützung der Aktion dort?

Ich möchte unterstützen, dass es solche Orte gibt, die Räume bieten. Es ist wichtig in dieser Situation, in dieser Entwicklung hin zum Negativen, die ich skizziere, dass Leute sich verständigen, dass es Orte dafür gibt, die nicht so kommerziell sind, an denen wieder eine Öffentlichkeit entsteht. Das finde ich sehr positiv.

„Reise in den Herbst“ thematisiert gleich zu Beginn den Aufbruch der Rechtspopulisten damals, ein Treffen in Koblenz, an dem Vertreter aus mehreren Ländern teilnahmen – wo stehen sie jetzt?

Sie sind natürlich sehr viel weiter. Der damalige AfD-Vorsitzende von Sachsen-Anhalt, André Poggenburg, sagte: AfD wirkt. Die anderen Parteien hätten viele Positionen, etwa die Einschränkung des Asylrechts, übernommen – und das ist ja inzwischen in viel größerem Maße geschehen.

Poggenburg spricht in dem Film auch schon von „Genderwahnsinn“ – und das 2017.

Das ist die Strategie. Aufgabe der anderen Parteien wäre es, das einzugrenzen. Wenn ihnen das nicht gelingt – der niederländische Rechtspopulist Geert Wilders sagt es ja auf dem Koblenzer Treffen: Jeannie, der Flaschengeist, ist aus der Flasche heraus, den werden sie nicht mehr reinbekommen. Es ist das neue Phänomen, dass dieser Rechtspopulismus immer stärker salonfähig wird, weil die etablierten Parteien Forderungen der AfD übernehmen. Was sie eigentlich machen müssten, ist, die zugrundeliegenden Probleme zu lösen, zum Beispiel die krasse Wohnungsnot, die wir ja auch am Beispiel Frankfurt zeigen. Das sind die sozialen Probleme. Das sind Langzeitfolgen des Umbaus und der Agenda 2010, Folgen der Globalisierung, die sich auch auf die Stabilität des politischen Systems auswirken.

Es gab schon damals starke Gegendemonstrationen gegen den Rechtsextremismus in Deutschland – und harsche Reaktionen der Polizei.

In Köln beim AfD–Parteitag waren es 4000 Polizisten, die da zum Einsatz kamen.

 

Zur Person & zum Film

Martin Keßler, 70, hat mehr als 50 Filme gedreht. Er arbeitet als freier Fernsehjournalist. Schwerpunkte sind Berichte, Reportagen, Dokumentationen zu Sozial- und Wirtschaftsthemen. Seine Reihe „Neue Wut“ greift politische und Umweltthemen auf, etwa die Naturzerstörung im brasilianischen Urwald.

Sein Film „Reise in den Herbst“ (143 Minuten) läuft an diesem Mittwoch, 22. Mai, um 19 Uhr im Berger Kino, Berger Straße 175. Er thematisiert sowohl welt- und bundespolitische Themen – Donald Trumps Rolle als US-Präsident, Absturz des SPD-Kanzlkerkandidaten Martin Schulz – aber auch Frankfurter Belange so wie etwa die „Pulse of Europe“-Kundgebungen oder einen Besuch in der Gallusgarten-Gemeinschaft. Der Eintritt ist frei, Spenden an das Besetzungskollektiv im Kino sind willkommen.

 

Was ist heute anders im Umgang der Gesellschaft mit den rechten Parteien?

Ich finde es bedenklich, dass so viele Leute, besonders in Ostdeutschland, trotz dieser Ideologie sagen: Wir wählen die. Das ist Ausdruck davon, dass die Leute große Angst vor Veränderung haben. Gerade im Osten, wo der Zusammenbruch der DDR schon viel Veränderungsbereitschaft eingefordert hat. 2017 habe ich bereits den Begriff „Zeitenwende“ im Untertitel des Films verwendet. Es ist tatsächlich eine Zeitenwende, in der wir uns befinden.

Nicht nur im Militärischen, wie 2022 vom Bundeskanzler verkündet.

Ich habe unter anderem eine Dokumentation in Brasilien gedreht und hautnah erlebt, was die Zerstörung der grünen Lunge der Welt am Amazonas bedeutet, der verschwenderische Lebensstil, der in dieser Form nicht aufrechtzuerhalten ist. Es wird aber so getan, als wäre das möglich, dabei schreiten die Folgen des Klimawandels immer weiter voran. Ich glaube, das spüren die Menschen.

Mike Josef kommt in Ihrem Film vor, damals noch als Frankfurter Planungsdezernent und in der Rolle des Kritikers. Es werde immer schwieriger, bezahlbaren Wohnraum zu finden, sagt er, 10 000 Menschen warteten auf eine Sozialwohnung, die Stadt habe zu wenig gemacht, man versuche „mit allem, was wir haben, nachzujustieren“. Jetzt ist er OB – hat er Wort gehalten?

Er kann ja nur begrenzt Wort halten, weil es nicht an ihm allein liegt. Wenn man schaut, wie sich die Stadt verändert, welche neuen Hochhäuser kommen, was wieder abgerissen wird – das ist ja diese Dynamik, die hier herrscht und von der Kapitallogik dominiert wird. Die ist ungebrochen. Das Problem, dass es zu wenig Wohnungen gibt, hat sich auch durch die vielen Flüchtlinge – vor allem auch infolge des Ukrainekrieges – verschärft. Es wäre Aufgabe der Parteien, die tatsächlichen Probleme zu lösen, die dazu führen.

Die Bewegung „Pulse of Europe“ war 2017 sehr präsent – heute, zur Europawahl nicht mehr so sehr, oder täuscht das?

Sie hatte eine Kundgebung im Mai – das war der Versuch zu sagen, wir müssen uns hier einschalten und zeigen, dass die Bevölkerung auch für ein offenes Europa steht. Ich beschäftige mich seit langem mit den sozialen Bewegungen, die zumeist wellenförmig auftreten. 2004 habe ich mit dem Projekt „Neue Wut“ begonnen. Stichwort Hartz IV. Seitdem wächst eine neue Wut, weil der bisherige gesellschaftliche Konsens von den Mächtigen immer stärker infrage gestellt wird. Mit Langzeitfolgen – wie die mangelnde Akzeptanz der etablierten Parteien. In diese Lücke geht die AfD – das ist aus meiner Sicht die große Gefahr: dass sich eine neue rechte Ideologie artikuliert, die mehr ist als nur Protest.

Wie wird sich das jetzt bei der kommenden EU-Wahl äußern, was glauben Sie?

Die Skandale der AfD werden an ihrem Wahlergebnis nagen, auch die Massendemonstrationen dürften eine Auswirkung haben. Aber viele Leute werden sie trotzdem wählen, einfach aus Protest. Wie der französische Philosoph Didier Eriban sagt: Dass die Rechten so stark werden, ist eine Folge davon, dass ihr die Arbeiter vergessen habt. Aber auch Bürgerliche wählen die AFD. Wilders ist jetzt an der Regierung der Niederlande beteiligt, Marine Le Pen hat große Chancen in Frankreich, sie hat sich ja auch moderater gezeigt – nur die AfD ist radikaler geworden und hat natürlich auch keine charismatische Führungspersönlichkeit. Wenn das noch dazukäme, würde es hier noch einmal ganz anders aussehen.